"Reisen war bei uns bis `37…" Mobile Lebensweise in den 1930er Jahren
Franziska Lorenz wurde 1933 in Rostock geboren. Ihr Vater, ein Schaustellerkind, war ein deutscher Sinto, ihre Mutter jedoch keine Sintezza. Die Familie – Franziska Lorenz hatte noch vier Geschwister – lebte bis 1937 im Wohnwagen und reiste umher, da der Vater als Tuchhändler arbeitete. Mit der zunehmenden nationalsozialistischen Verfolgung und Entrechtung der Sinti musste sich die Familie in Hamburg niederlassen und sesshaft werden. Als sogenanntes "Mischlingskind" wurde Franziska Lorenz in der Schule diskriminiert und die Familie lebte in ständiger Angst, wie ihre Verwandten und Bekannten deportiert zu werden. Um nicht aufzufallen, hörten sie auf Romanes zu sprechen. Im Rahmen der Kinderlandverschickung kam Franziska Lorenz in ein sächsisches Dorf, wo sie neun Monate blieb und zur Schule ging.
Das Kriegsende erlebte sie in Hamburg. Nach dem Krieg trennten sich ihre Eltern, der Vater war aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung wirtschaftlich ruiniert. So konnte Franziska Lorenz aus finanziellen Gründen keine Ausbildung machen und arbeitete nach der Schulzeit fünf Jahre lang als Hotelangestellte in Schweden. Sie heiratete einen Seemann, mit dem sie zur See fuhr, eine Familie gründete und über 40 Jahre lang glücklich verheiratet war. Heute setzt sie sich aktiv für die Rechte der Sinti ein.
Die Geschichte der Stigmatisierung, Diskriminierung und Verfolgung von als "Zigeuner" bezeichneten Menschen in Deutschland und Europa reicht weit zurück. Seit dem ausgehenden Mittelalter sind Beschlüsse zur Verfolgung von "Zigeunern" überliefert [1]. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert – im Zusammenhang mit der Zentralisierung der Polizei im deutschen Kaiserreich – nahm die systematische polizeiliche Erfassung, Kennzeichnung und damit einhergehende Kriminalisierung von als "Zigeuner" oder "Landfahrer" stigmatisierten Personen stark zu [2]. 1933 verschärfte sich die Verfolgungssituation nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Der Entzug von Wandergewerbescheinen, wovon auch der Vater von Franziska Lorenz betroffen war, beschränkte die Freizügigkeit und die Berufsmöglichkeiten zahlreicher Menschen und ruinierte ihre Einkommensgrundlage. Für die betroffenen Sinti oder Roma war das besonders einschneidend, waren sie doch auch von Fürsorgeleistungen ausgelassen. In der NS-Zeit kreuzten sich alte antiziganistische Vorurteile – wie die angebliche "Arbeitsscheue" und "Asozialität" von "Zigeunern" – mit der nationalsozialistischen Rassenlehre [3]. In den "Nürnberger Rassengesetzen" von 1935 wurden neben Juden auch "Zigeuner" als "Fremdrasse im deutschen Volkskörper" definiert. Die 1936 unter der Leitung des Psychiaters Robert Ritter eingerichtete "Rassenhygienischen Forschungsstelle am Reichsgesundheitsamt" arbeitete an der Erfassung der auf 30.000 Personen geschätzten "Zigeuner" im Deutschen Reich. Die genealogischen und anthropologischen Untersuchungen dieser Forschungsstelle bildeten die Basis für Zwangssterilisationen, die im Rahmen des 1933 verabschiedeten "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" durchgeführt wurden, sowie für Festsetzungen und Deportationen. Seit 1935 konzentrierten viele deutsche Städte, die als "Zigeuner" erfasste Personen in sogenannten "Zigeunerlagern", von wo sie zur Zwangsarbeit eingesetzt oder in Konzentrationslager deportiert wurden [4]. Aus Hamburg und Norddeutschland wurden mehr als 1200 Sinti und Roma in den Tod geschickt [5].
[1] Prominentes Beispiel ist der Beschluss des Freiburger Reichstages aus dem Jahr 1498, in dem die bis dahin bestehenden Schutzbriefe für "Zigeuner" im Deutschen Reichsgebiet aufgehoben wurden. Angriffe auf sie wurden straffrei gestellt, weil sie – so die Begründung – für das Osmanische Reich Spionage betrieben hätten. Markus End: Bilder und Sinnstruktur des Antiziganismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 22-23 (2011).
[2] Leo Lucassen: Zigeuner. Die Geschichte eines polizeilichen Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700-1945. Köln u.a. 1996, S. 199.
[3] Yvonne Robel: "Beruf: Zigeuner". Logiken von NS-Verfolgung in der Peripherie, in: Alexandra Bartels u.a. (Hg.): Antiziganistische Zustände 2. Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse. Münster 2013, S. 100-113.
[4] Karola Fings: Der Weg in den Völkermord. Rekonstruktion und Struktur, in: Karola Fings / Ulrich F. Opfermann (Hg.): Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933-1945. Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung. Paderborn u.a. 2012, S. 53-74, hier: S. 61-66.
[5] Linde Apel: In den Tod geschickt. Die Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940 bis 1945, Berlin 2009. Ulrich Prehn: "…dass Hamburg mit als erste Stadt an den Abtransport herangeht". Die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti und Roma in Hamburg, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 14 (2012), S. 35-54.
Archiv: Werkstatt der Erinnerung an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Signatur: FZH/WdE 1224
Interviewerin: Linde Apel
Interviewtermin: 11.12.2008
Interviewlänge: 59 Min.
Forschungsprojekt:"Hannoverscher Bahnhof". Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940 bis 1945. Ausstellungsprojekt "In den Tod geschickt" der Werkstatt der Erinnerung unter der Leitung von Linde Apel.
Sammlungsschwerpunkt: Verfolgung im Nationalsozialismus / rassistische Verfolgung / Sinti und Roma
Bilder:
Bild Überblickseite: FZH/WdE 1224, Vor dem Wohnwagen, Ostern 1934.
Bild oben: FZH/WdE 1224, Franziska Lorenz mit Puppenwagen, Ostern 1934.
Bild Interview: FZH/WdE 1224, Familie Lorenz vor Wohnwagen, Ostern 1934.