"Schade, dass die Deutsche Reichsbahn ihren Dienst nicht verweigert hat…" Deportation von Hamburger Juden nach Riga, 1941
Fred Leser – eigentlich Manfred Leser – wurde 1927 in Hamburg als Sohn eines jüdischen Geschäftsmannes geboren. Sein Vater führte einen Betrieb für Röntgenbedarf. Seine Mutter war Hausfrau. Die Familie – Fred Leser hatte noch einen älteren Bruder – lebte in Hamburg-Eppendorf. Durch die zunehmende nationalsozialistische Verfolgung geriet der Vater in finanzielle Schwierigkeiten und die Familie musste nach St. Georg umziehen, in ein Haus, das dem Großvater gehörte.
Nach der Pogromnacht 1938 wurde der Vater verhaftet und nach Sachsenhausen deportiert. Die Mutter konnte seine Entlassung erwirken, in dem sie Fahrkarten und Genehmigungen für eine Emigration nach Shanghai vorweisen konnte. Sein Vater war jedoch überzeugt, dass ihnen in Deutschland nichts Lebensbedrohliches passieren würde und so ließen sie diese Ausreisemöglichkeit ungenutzt verstreichen. 1941 wurde die ganze Familie Leser nach Riga deportiert. Vater und Bruder wurden weiter ins Arbeitslager Salaspils gebracht, wo sie ermordet wurden. Fred Leser und seine Mutter kamen zunächst in das Konzentrationslager Jungfernhof, von dort über das Rigaer Ghetto und das Konzentrationslager Kaiserwald ins KZ Stutthof. Nachdem Fred Leser sich zu einem Kommando in das Außenlager Burggraben gemeldet hatte, wurde er von seiner Mutter getrennt – und sah sie nie wieder.
Fred Leser überlebte als einziger seiner Familie den Holocaust. 1945 wurde er in Burggraben von den Russen befreit und auf einem Bauernhof gepflegt. Anschließend kehrte er nach Hamburg zurück. Bleiben wollte er dort nicht, absolvierte jedoch vor seiner Emigration eine Maurerlehre, um eine Ausbildung zu haben.
1949 wanderte er in die USA – nach New York – aus. 1950, zur Zeit des Koreakrieges, wurde er in die US-Armee eingezogen und kam für zwei Jahre als Militärkoch nach Virginia. Nach seinem Militärdienst arbeitete er als Mauerer und holte in Abendkursen die Universitätsreife nach. Er absolvierte ein Studium in amerikanischer, britischer und deutscher Literatur. Nach seinem Abschluss erhielt er eine Stelle als Lehrer auf Long Island, wo er 30 Jahre lang bis zu seiner Pensionierung unterrichtete.
Seine Heimatstadt Hamburg besuchte er trotz der Verfolgungs- und Gewalterfahrungen regelmäßig. Vor einigen Jahren entschied er sich gemeinsam mit seiner zweiten Frau – einer gebürtigen Brasilianerin, die jahrzehntelang in Israel gelebt hatte –, die Sommermonate jeweils in Hamburg und den Winter in Florida zu verbringen. Aus erster Ehe hat Fred Leser einen Sohn.
Von 1940 bis 1945 wurden 7.692 Juden, Roma und Sinti aus Hamburg in die nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nur wenige überlebten die Deportationen und kehrten nach Hamburg zurück. Die insgesamt 20 Deportationszüge verließen Hamburg vom Hannoverschen Bahnhof aus. Für den reibungslosen Ablauf der Deportationen sorgte auch die Deutsche Reichsbahn, die sich damit unmittelbar am Mord an den europäischen Juden, Sinti und Roma mitschuldig machte. Der Transport, auf den Fred Leser eingeteilt wurde, brachte am 6. Dezember 1941 753 Hamburger Juden nach Riga. Davon überlebten nur 27 Personen. Die Deportierten wurden zunächst im Konzentrationslager Jungfernhof, einem umfunktionierten alten Gutshof, untergebracht. In Scheunen, Ställen und Baracken wurden mehr als 4.000 Personen zusammengepfercht. Die katastrophalen hygienischen Bedingungen, die mangelhafte Verpflegung und der ungenügende Schutz gegen die lettische Kälte ließen allein im Winter 1941/42 800 bis 900 Personen sterben. Häftlinge aus Jungfernhof, darunter Fred Lesers Vater und Bruder, mussten beim Aufbau des nahe gelegenen Arbeitslagers Salaspils mithelfen. 1942 wurde das KZ Jungfernhof aufgelöst. 1.700 der dort inhaftierten Juden und Jüdinnen wurden in der "Aktion Dünamünde" im Wald von Bikernieki erschossen. Die Überlebenden vom Jungfernhof, so auch Fred Leser und seine Mutter, kamen ins Ghetto Riga [1].
[1] Linde Apel: In den Tod geschickt. Die Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940 bis 1945, Berlin 2009, S. 9; S. 51; S. 104-113. Hilde Michael: Das Leben der Hamburger und Altonaer Juden unter dem Hakenkreuz. Anhand ausgewählter Briefe des Dr. Joseph Carlebach. Berlin 2009, S. 12.
Archiv: Werkstatt der Erinnerung an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Signatur: FZH/WdE 495
Interviewerin: Linde Apel
Interviewtermin: 20.05.2008
Interviewlänge: 1 Std. 29 Min.
Forschungsprojekt: "Hannoverscher Bahnhof". Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940 bis 1945. Ausstellungsprojekt "In den Tod geschickt" der Werkstatt der Erinnerung unter der Leitung von Linde Apel.
Sammlungsschwerpunkt: Verfolgung im Nationalsozialismus / Juden
Bilder:
Bild Überblickseite und oben: FZH/WdE 495, Fred Leser, Porträt, Hamburg 1941.
Bild Interview: Staatsarchiv Hamburg, Bestand 314-15, Oberfinanzpräsident, 24 UA 4. Auszug aus der Deportationsliste des Transportes nach Riga am 6.12.1941, Eintrag der Familie Leser, Hamburg 1941.