"Er musste ein Hausmann sein" Türkische ArbeitsmigrantInnen in der Bundesrepublik, 1981
Huriye Bozkurt wurde 1954 als Tochter eines Polizeibeamten und einer Hausfrau in Ankara geboren. Bis zur Einschulung wuchs die zweitälteste von sieben Kindern bei ihren Großeltern auf dem Land auf, anschließend kehrte sie in den elterlichen Haushalt zurück. 1965 ging ihr Vater mit einem Bruder, der an Kinderlähmung erkrankt war, nach Hamburg. Die Familie erhoffte sich dort eine bessere medizinische Behandlung. Die Mutter blieb mit den anderen Kindern in Ankara zurück. Der Vater fand eine Anstellung in der Hamburger Schreibwarenmanufaktur Rotring.
Als 16-Jährige – im Jahr 1970 – folgte Huriye Bozkurt gemeinsam mit einer Schwester dem Vater nach Hamburg und begann ebenfalls bei Rotring zu arbeiten. Während eines Türkeiurlaubs lernte sie ihren späteren Ehemann Hassan kennen. 1978 heiratete sie und kehrte in ihr Geburtsland zurück. Nach zwei Jahren in der Türkei, mittlerweile hatte sie einen Sohn bekommen, zog es sie wieder nach Deutschland. Dort arbeitete sie erneut bei Rotring. 1981 konnte sie im Rahmen einer Familienzusammenführung ihren Ehemann nachholen. Huriye Bozkurt ging arbeiten, während ihr Mann zunächst Hausmann war. 1986 bekamen sie eine Tochter. Durch die Aktivitäten in einer Frauengruppe der Ausländerinitiative St. Georg erfuhr sie von der Möglichkeit, an der Fachschule für Sozialpädagogik eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu absolvieren, die sich ganz gezielt an ausländische Frauen richtete. Huriye Bozkurt ergriff diese Ausbildungsmöglichkeit und arbeitete nach ihrem erfolgreichen Studienabschluss für einige Jahre als Teilzeitangestellte im Kindertreff Motte.
Heute führt Huriye Bozkurt gemeinsam mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern die Schulkantine der Stadtteilschule Mitte. Dort sorgt sie nicht nur für das leibliche Wohl der Jugendlichen, sondern kümmert sich auch um deren Sorgen und Probleme und ist eine wichtige inoffizielle Ansprechpartnerin für Schüler und Lehrerinnen. In ihrer Freizeit fertigt sie kunstvolle Handarbeiten und liest leidenschaftlich gerne. In der Türkei, wo Huriye Bozkurt mehrere Monate im Jahr lebt, hat sie sich gemeinsam mit ihrem Mann ein kleines "Paradies" aufgebaut: ein Haus mit vielen Blumen und Sicht auf das Meer.
1961 schloss die Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei einen "Anwerbevertrag", um genügend "Gastarbeiter" für die blühende Wirtschaft rekrutieren zu können [1]. Von 1961 bis zum "Anwerbestopp" 1973 waren knapp 900.000 türkische Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen. Trotz Beendigung der staatlich gesteuerten Anwerbung sank die Zahl der Zuwandernden - entgegen der Absichten der deutschen Politiker - nicht. Im Gegenteil, da im Fall einer Ausreise die Chance auf eine Rückkehr als Arbeitsmigrantin nach dem Anwerbestopp fast unmöglich war, entschieden sich viele Türkinnen und Türken in der Bundesrepublik zu bleiben. Zudem gewann der Familiennachzug an Gewicht. 53 Prozent der rund drei Millionen türkischstämmigen Personen in Deutschland sind auf diese Weise eingereist [2]. In der deutschen Wahrnehmung dominierte lange Zeit die Vorstellung, dass "Gastarbeiter" in der Regel männlich waren und Frauen erst im Rahmen des Familiennachzuges nach Deutschland kamen. Der Frauenanteil unter den als "Gastarbeitern" eingereisten Personen war jedoch nicht gering. 1970 waren von den zwei Millionen ausländischen Beschäftigten 30 Prozent weiblich. Das Interview mit Huriye Bozkurt zeigt, dass nicht selten die Frauen Pionierinnen waren und ihre Ehemänner nachholten. Es verweist auch auf die Herausforderungen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in "Gastarbeiterfamilien". Da Arbeitsmigrantinnen wie Huriye Bozkurt in der Regel einer ganztägigen Lohnarbeit nachgingen, mussten sie mit ihren Männern andere Formen in der Verteilung von Hausarbeit und Kinderbetreuung suchen, als das in der deutschen Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre vorherrschende männliche "Ernährermodell" vorsah, in dem der Mann Hauptverdiener ist und die Frau die Haus- und Familienarbeit übernimmt. [3]
[1] Vgl. dazu das Interview mit Georg Ehlers.
[2] Stefan Luft: Die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer und ihre Folgen, in: Dossier Türkei der Bundeszentrale für politische Bildung, 2014.
[3] Monika Mattes: "Gastarbeiterinnen" in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren. Frankfurt/Main, New York 2005, S. 10; 276-284.
Archiv: Werkstatt der Erinnerung an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Signatur: FZH/WdE 580
Interviewerinnen: Elisabeth von Dücker und Alexandra Lübcke
Interviewtermin: 29.09.1998
Interviewlänge: 2 Std. 28 Min.
Forschungsprojekt: Berufs- und Lebensplanung von Frauen. Zur Bedeutung von Erwerbsarbeit in den Biografien von Frauen. Ein Kooperationsprojekt der FZH mit dem Hamburger Museum für Arbeit (1998/99).
Sammlungsschwerpunkt: Wirtschaft und Arbeit / Berufs- und Lebensplanung von Frauen
Bilder:
Bild Überblickseite: FZH/WdE 580, Huriye Bozkurt (vorne 2.v.r) mit Familie und Bekannten, Türkei um 1960.
Bild Oben: FZH/WdE 580, Huriye Bozkurt mit Arbeitskolleginnen in der Schreibwarenfabrik Rotring, Hamburg 1978.
Bild Interview: FZH/WdE 580, Porträt von Huriye Bozkurt, 2009.