Bundesarchiv, Bild 183-N0709-0036, Chorleiterseminar, Berlin 1974. Foto: Vera Katscherowski (verehel. Stark).

Gerda Grüttner (Alias)

"Aus fachlichen Gründen…" Studium in Hamburg, Frankfurt und Freiburg in den 1950er Jahren

Gerda Grüttner wurde 1930 als Tochter eines Chemikers und einer Lehrerin, die nach der Hochzeit Hausfrau war, in Hameln geboren. Ihr einziger Bruder verstarb noch im Kindesalter. Der Vater hatte eine Leitungsposition in einem Hamburger Energieversorgungsunternehmen inne und war Mitglied in der NSDAP. Die Familie bewohnte ein Einfamilienhaus in Wandsbek, das nach Kriegsende bis 1956 von der britischen Besatzungsmacht beschlagnahmt wurde, um Wohnraum für Offiziere zu schaffen. Trotz finanzieller Schwierigkeiten ihrer Eltern in der Nachkriegszeit konnte Gerda Grüttner nach ihrem Abitur 1949 eine private Klavierausbildung bei der Cembalistin und Pianistin Eliza Hansen anfangen.

1950 ging sie gemeinsam mit einer Freundin nach Frankfurt und begann ein Studium der Musikwissenschaften und Kunstgeschichte. Nach vier Semestern wechselte Gerda Grüttner an die Musikhochschule Freiburg, wo sie promovierte. Neben ihrem Studium arbeitete sie als Musikkritikerin bei einer Freiburger Zeitung.

Nach Studienabschluss kehrte sie nach Hamburg zurück, wo sie zunächst sieben Jahre lang als Journalistin bei einer großen Tageszeitung tätig war. Anschließend wechselte sie als Pressereferentin in eine Hamburger Fachbehörde, wo sie ab 1970 eine leitende Tätigkeit in verschiedenen Gremien und Ausschüssen übernahm. Zudem war sie Dozentin für Politik und Kunstgeschichte. Neben ihrer Berufstätigkeit pflegte sie ihre Mutter bis zu deren Tod 1984.

Nach ihrer Pensionierung im Jahr 1992 widmete sie sich künstlerischen Tätigkeiten und wohnte zum Zeitpunkt des Interviews mit einer Freundin zusammen, um sich im Krankheits- und Pflegefall gegenseitig unterstützen zu können.

 

Historischer Kontext

Frauenstudium in den 1950er Jahren und studentische Mobilität

Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zu den Bildungsreformen der 1960er Jahre stand das deutsche Bildungssystem unter dem Vorzeichen der Restauration. Das in der Weimarer Republik etablierte dreigliedrige Schulsystem (Volksschule, Realschule und Gymnasium) wurde beibehalten. Das Bildungssystem war nach wie vor eng mit der Sozialstruktur verknüpft. Gymnasium und Hochschulen wurden fast ausschließlich von Angehörigen einer bildungsbürgerlichen Oberschicht besucht [1]. Der Hochschulbetrieb war bereits im Herbst 1945 wieder aufgenommen worden. Einem dezimierten Lehrkörper stand eine rasch ansteigende Zahl von Studierenden gegenüber. Um der Überfüllung der Universitäten zu begegnen, wurden Lösungen zur Eindämmung der Studierendenzahlen gesucht. Die Studienplätze sollten vor allem für Soldaten und Kriegsversehrte frei sein, was dazu führte, dass Frauen verstärkt abgewiesen wurden. Waren 1941 noch 32 Prozent der Studierenden weiblich, halbierte sich ihr Anteil 1951/52 bundesweit auf knapp 16 Prozent. Als Gerda Grüttner 1951 ihr Studium der Musikwissenschaften und Kunstgeschichte in Frankfurt aufnahm, gehörte sie also zu einer weiblichen Minderheit an der Hochschule. Der Großteil ihrer Kommilitoninnen stammte - laut Statistik - ebenfalls aus einem akademisch gebildeten Elternhaus. Im Wintersemester 1949/50 hatten bundesweit 40 Prozent der Studentinnen zumindest ein studiertes Elternteil. Trotz der Herkunft aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt bestimmten in der unmittelbaren Nachkriegszeit Hunger, katastrophale Wohnbedingungen und gesundheitliche Probleme die Lebensumstände vieler Studierenden. Neben der ohnehin angespannten Wohn- und Ernährungssituation in den deutschen Städten hatten das Kriegsende und der Zerfall des nationalsozialistischen Regimes einen - temporären - sozialen Abstieg der einstigen gesellschaftlichen Elite zur Folge. Mit einem Nebenjob zur Finanzierung des Studiums beizutragen, war deshalb für viele Frauen und Männer in der Nachkriegszeit eine Normalität [2].

Dass Gerda Grüttner "aus fachlichen Gründen" an verschiedenen Universitäten der Bundesrepublik studierte, ist nicht außergewöhnlich. Studentische Mobilität gibt es nicht erst seit der Bologna-Reform und der Schaffung eines europäischen Hochschulraumes in den 1990er Jahren, sondern hat eine lange Tradition. Seit es Universitäten gibt, reisten Studierende ihren Professoren nach, eine gemeinsame Gelehrtensprache (Latein) erleichterte auch über Ländergrenzen hinweg die Kommunikation und vor dem Aufkommen der nationalstaatlichen Universität waren die Hochschulen für Angehörige aller Nationalitäten offen. Studentische Mobilität gehörte aber auch zum Kern des liberalen Humboldtschen Universitätsmodells, das auf der Freiheit des Studiums, der Lehre und Forschung beruht und sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland etablierte [3].

 

 

[1] Rolf Becker: Historischer Rückblick, in: Dossier Deutsche Verhältnisse, eine Sozialkunde der Bundeszentrale für politische Bildung, 2012.
[2] Bärbel Maul: Akademikerinnen in der Nachkriegszeit. Ein Vergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, Frankfurt/New York 2001, S. 20-23; 80-83.
[3] Sheldon Rothblatt: Das Studium, in: Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa (Bd. 4). Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. München 2010, S. 218-248, hier: 243-246.

Gerda Grüttner erzählt

  • Berufliche Beweglichkeit
Quellennachweis

Archiv: Werkstatt der Erinnerung an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Signatur: FZH/WdE 605
Interviewerin: Alexandra Lübcke
Interviewtermin: 27.04.1999
Interviewlänge: 2 Std. 24 Min.
Forschungsprojekt: Berufs- und Lebensplanung von Frauen. Zur Bedeutung von Erwerbsarbeit in den Biografien von Frauen. Ein Kooperationsprojekt der FZH mit dem Hamburger Museum für Arbeit (1998/99).
Sammlungsschwerpunkt: Wirtschaft und Arbeit / Berufs- und Lebensplanung von Frauen


Bilder:
Bild Überblickseite und Interview: Bundesarchiv, B 145 Bild-F010462-0003, Universität, Freiburg im Breisgau 1961. Foto: Ludwig Wegmann.
Bild oben: Bundesarchiv, Bild 183-N0709-0036, Chorleiterseminar, Berlin 1974. Foto: Vera Katscherowski (verehel. Stark).

Logo Hamburg Behörde für WissenschaftLogo Hamburg Behörde für WissenschaftLogo Hamburg Behörde für Wissenschaft
Logo L2GoLogo VimeoLogo Twitter
arrow_left_paginationarrow_right_paginationBurger_2pxFZH_Logo_RGB_zentrierticon_downloadkreuz_schließen_2_5pxkreuz_schließen_2pxlink_downloadlink_externLupe_2pxmenuminuspfeil_link_extern_blaupfeil_slider_linkspfeil_slider_rechtsplus