Die Vortragsreihe „Hamburger Vorlesungen zur Wissensgeschichte“ beleuchtet die historische Entstehung, Zirkulation und Regulierung von Wissen aus interdisziplinärer Perspektive. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Ausbildung der modernen Wissensgesellschaft vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Thematisiert werden wissenschaftliche und technologische Entwicklungen, gesellschaftliche Normen, globale Wissensnetzwerke sowie die Rolle von Institutionen und Sammlungen in der Wissensproduktion. Die Vorträge untersuchen historische Prozesse, die unser heutiges Verständnis von Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur prägen, und bieten Gelegenheit zu vertiefter Reflexion und Diskussion.
Carola Oßmer (Berlin): Meilenstein. Normalität, Kinderentwicklung und Medientechnologie im 20. Jahrhundert
Was ist normal? Bei Babys lässt sich das augenscheinlich einfach an einzelnen Entwicklungsschritten klären. Kinderärzte, Psychologen, Pädagogen und die allermeisten Eltern haben Entwicklungsnormen verinnerlicht. Wir gleichen Kinder mit diesen Normen ab, um zu beurteilen, ob sich ein Kind normal, sprich: im richtigen Tempo entwickelt. Die Normen frühkindlicher Entwicklung, oft beschrieben als „Meilensteine“, sind im tagtäglichen Handeln und Denken verbreitet. Auch in altersgerechtem Spielzeug, Babyartikeln und Erziehungsratgebern finden sie sich. Sie bestimmen, was als Normal gilt, und das weltweit. In dem Vortrag verfolge ich die Herausbildung der Meilensteine und hinterfrage eine Vorstellung von Normalität, die mit einem filmischen Forschungsprogramm und – vielleicht ironischerweise – mit Kritik am Normalen begann.
Lisa Hellriegel (Bremen): Wissen über Gewalt. Polizeiliche, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven auf sexualisierte Gewalt in deutschen und englischen Großstädten (1920er-1960er Jahre)
Die zweite Welle der Frauenbewegung, die sich ab den 1970er Jahren intensiv mit sexualisierter Gewalt an Frauen und später an Kindern auseinandersetzte, gilt als Ausgangspunkt der Produktion von Wissen über sexualisierte Gewalt und dessen Verbreitung in die Gesellschaft. Der Vortrag legt den Fokus auf vorherige Jahrzehnte und fragt, welches Wissen über sexualisierte Gewalt Jurist:innen, Polizist:innen, Ärzt:innen und Mitglieder der ersten Frauenbewegung ab den 1920er Jahren produzierten. Großstädte stellten dabei Zentren der Wissensproduktion und -verbreitung dar.
Mona Bieling (Hamburg): Tropische Landwirtschaft zwischen Hamburg und der Welt: Institutionen, Netzwerke und Wissensaustausch, 1880s-1930s
Die sog. tropische Landwirtschaft spielte eine wichtige Rolle dabei, wie sich deutsche Wissenschaftler die Umwelt der deutschen Kolonien vorstellten und sie gestalteten, sowohl während als auch nach der offiziellen Beteiligung des deutschen Staates am Kolonialprojekt. Ein wichtiger Akteur auf diesem Gebiet war der in Hamburg geborene jüdische Botaniker Otto Warburg. Dieser Vortrag wird Warburgs transimperiale Karriere, seine Veröffentlichungen und seine von ihm etablierten Institutionen und Netzwerke verfolgen, um den Einfluss nachzuzeichnen, den er und seine Kollegen sowohl auf die Umwelt selbst als auch auf koloniale Narrative über ihre Produktivität und Nutzung hatten.
Niklas Lenhard-Schramm (Hamburg/Münster): Regulierung zwischen Recht und Risiko: Hormonelle Schwangerschaftstests in Deutschland
Hormonelle Schwangerschaftstests, die in Deutschland von 1950 bis 1978 auf dem Markt waren, stehen bis heute unter Verdacht, für angeborene Fehlbildungen verantwortlich zu sein. Bereits seit den 1960er Jahren wurden diese Medikamente – allen voran das Präparat „Duogynon“ von Schering – und ihre Wirkungen kontrovers diskutiert, Parallelen zum Contergan-Skandal immer wieder gezogen. Der Vortrag beleuchtet die vielfältigen Probleme bei der Regulierung dieser Präparate, die über einen Zeitraum vertrieben wurden, in dem sich das deutsche Arzneimittelwesen tiefgreifend veränderte. Besonderes Augenmerk widmet er dabei dem Wechselverhältnis zwischen medizinischem Wissen, rechtlichen Vorschriften und medialer Öffentlichkeit.
Michael Hagner (Zürich): Pyramidenzellen, die die Welt erschüttern. Die Untersuchung von Lenins Gehirn
Der Berliner Hirnforscher Oskar Vogt ließ Lenins Gehirn in Moskau in 30.000 hauchdünne Scheiben schneiden, mit Silberionen färben und auf Glas fixieren. Er fand „besonders zahlreiche große Pyramidenzellen“ und erklärte Lenin zu einem „Assoziations-Athleten“ mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten.
In seinem Buch „Geniale Gehirne“ hat Michael Hagner diese Episode als einen spektakulären Höhepunkt der Elitegehirnforschung nachgezeichnet und die politischen und wissenschaftsphilosophischen Hintergründe der damit verbundenen Sichtweise des Menschen aufgedeckt.
Dominik Hünniger (Hamburg): Historische Sammlungsökologie – eine Wissens- und Umweltgeschichte von Museen
Museen waren und sind Orte der Verflechtung von Kontinenten, Organismen, Gesellschaften und Körpern. Seit geraumer Zeit erhalten sie verstärkte Aufmerksamkeit durch die Wissens- und Umweltgeschichte und sind selbst wichtige Akteure in der Erforschung und Vermittlung von Mensch-Natur-Verhältnissen.
Historische Sammlungsökologie versteht Sammlungen und Museen als Umwelten sowohl hinsichtlich der spezifischen Materialitäten der Objekte als auch das aus ihnen gewonnene bzw. zu gewinnende Umwelt-Wissen. Sammlungsobjekte und Ausstellungen sind ideale Formationen um sich kritisch mit Konzepten, Vorstellungen und Erzählungen von Mensch-Natur-Verhältnissen auseinanderzusetzen und auch aktuelle Fragen nach Forschungs- und Vermittlungspotential von Sammlungen neu zu bestimmen. Der Vortrag gibt einen Überblick über aktuelle Entwicklungen und Fragen. Auf welchen Wissens-Infrastrukturen beruhte das Sammeln, Ausstellen und Rekonstruieren (naturaler) Dinge? Wie hat dies wiederum Umwelten geprägt und verändert? Wie können wir disziplin- und praxisübergreifend darüber nachdenken, auf welche Weise materialbasiertes Wissen in Zeiten von Klimakrise und Biodiversitätswandel miteinander verflochten sind?
Die Vortragsreihe ist eine Kooperationsveranstaltung mit der der Helmut-Schmidt-Universität und dem Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am UKE.
Veranstaltungsort
Hörsaal des Fritz-Schumacher-Hauses (N30)
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Vor den Veranstaltungen ist der kostenlose Besuch des Medizinhistorischen Museums möglich (ab 17 Uhr).