Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das Interesse am Körper in der Moderne zunahm. Die Industrialisierung beförderte Fragen nach körperlicher Leistungsfähigkeit und Effizienz. Nationale Identifikation und Rassismus funktionierten nicht zuletzt über die Ausgrenzung „anderer“, „defekter“ oder „hässlicher“ Körper. Geschlechter- und Klassenunterschiede wurden auch mit dem jeweiligen Wissen über den Körper begründet. Aber was galt wann als gesund, schön oder produktiv? Wer hatte die Deutungsmacht darüber? Auf welche Weise prägten Erwartungen an den menschlichen Körper sowie konkrete körperbezogene Praktiken Gruppenidentitäten und Selbstbilder?
Ausgewählte Beiträge können Sie hier hören.
In den fünf Vorträgen der Reihe gehen die Referentinnen und Referenten diesen Fragen nach und loten aus, wie der Körper zu einem spannenden Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschung werden kann.
18.30 Uhr
Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens. Die Schlafenszeit ist eine unbewusste, unproduktive, untätige, aber auch eine lebensnotwendige und herbeigesehnte Zeit. Wie geht eine Gesellschaft, in der wissenschaftliches Verstehen, Rationalität und Effizienz eine zentrale Rolle spielen, mit einem so widerspenstigen Phänomen wie dem Schlaf um? Hannah Ahlheim diskutiert in ihrem Vortrag, auf welche Weise die Geschichte des Schlafs im 20. Jahrhundert verknüpft ist mit der Geschichte von Wissenschaft, Technik, Arbeit, Alltag und Krieg. Die Arbeit mit dauerwachen Maschinen, verschobene Grenzen zwischen Tag und Nacht, Fortschritte der Wissenschaft, die Entwicklung von synthetischen Schlafmitteln und die Erfahrungen des Krieges stellten auch neue Anforderungen an die alltägliche Organisation des Schlafens und veränderten die Behandlung des schlafenden Menschen. Die Art und Weise aber, wie eine Gesellschaft mit grundlegenden Bedürfnissen und mit den Träumen des Individuums umgeht, wirft ein Licht auf die Herrschaftsmechanismen und Machtverhältnisse einer Gesellschaft.
18.30 Uhr
Seuchen sind die sozialsten aller Krankheiten: Sie bedrohen nicht nur den Einzelnen, sondern immer auch die Gesellschaft als Ganzes. Schon deshalb ist die Geschichte des Impfens eine Geschichte voller Ängste und Hoffnungen. In seinem Vortrag nimmt Malte Thießen diese Geschichte in den Blick, um dem Wandel von Körperkonzepten im 19., 20. und 21. Jahrhundert nachzuspüren. Am Umgang mit schutzlosen Kinderkörpern, mit bedrohlichen „Seuchenträgern“ oder immunisierten „Volkskörpern“ zeichnen sich Vorstellungen vom „richtigen“ Verhalten und von der „gesunden“ Gesellschaft ab. Der Zeitgeschichte eröffnet die Erforschung von Impfprogrammen daher neue Zugänge zum Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Allgemeinheit.
18.30 Uhr
Im späten 19. Jahrhundert wurde die Kalorie in den USA als Maßeinheit für den Energiegehalt von Nahrung eingeführt und produktiv. Ernährungswissenschaftler suchten seitdem experimentell zu ergründen, wie viele Kalorien ein menschlicher Körper für welche Leistung brauchte. Reformerinnen lehrten Arbeiterfamilien, möglichst wenig Geld für möglichst viele Kalorien auszugeben. Einige Dekaden später wurde die Kalorie als Diätmethode der Mittelklasse populär. Diese Praxis war von der Pflicht und Freiheit gekennzeichnet, sich in der entstehenden Konsumgesellschaft selbst zu führen. Nina Mackert zeigt in ihrem Vortrag anhand der frühen Geschichte der Nahrungskalorie, wie unterschiedliche Praktiken des Kalorienzählens dazu beigetragen haben, die Gesellschaft sozial zu ordnen.
18.30 Uhr
Die Steigerung körperlicher Leistung mit Hilfe pharmakologischer Substanzen ist ein alter Traum der Menschheit – und ihre Anwendung im Sport ein altes Phänomen. Verhältnismäßig neu ist jedoch die Verurteilung, Verfolgung und Sanktionierung als illegitimes „Doping“. In diesem Zuge haben sich seit den 1960er Jahren Praktiken der Überwachung etabliert, die in Kontexten außerhalb des Leistungssports ihresgleichen suchen. Marcel Reinold beginnt daher seinen Vortrag mit der Verwunderung darüber, dass es Doping und Dopingbekämpfung in der heutigen Form überhaupt gibt, und fragt danach, wie Doping als abweichendes Verhalten konstruiert wurde.
18.30 Uhr
In Überblickdarstellungen wie Einzelstudien wird die Geschichte des 20. Jahrhunderts gerne als Geschichte einer sukzessiven Ablösung der Arbeitsgesellschaft der ersten Jahrhunderthälfte durch die Konsumgesellschaft der vergangenen Jahrzehnte erzählt: Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wie für die individuelle Identität habe zunächst die Arbeit im Zentrum gestanden; heute sei es vor allem der Konsum. Dagegen fragt Peter-Paul Bänziger in seinem Vortrag mit Blick auf körpergeschichtliche Forschungen, ob Konsum und Arbeit nicht besser als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden sollten. Mit anderen Worten: Können wir im 20. Jahrhundert nicht vor allem Transformationen einer um 1900 etablierten Konsum- und Arbeitsgesellschaft beobachten?