Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. In den sechs Jahren zuvor hatten bis dahin unvorstellbare Kriegsverbrechen und Gewaltexzesse unter deutscher Führung in ganz Europa stattgefunden. Millionen Menschen wurden rassistisch oder politisch verfolgt, Millionen wurden während und nach dem Krieg vertrieben, Millionen Menschen wurden ermordet. Inmitten dieses Geschehens entfaltete sich der Völkermord an den europäischen Juden, der Holocaust. Das Kriegsende verbanden Viele mit der Hoffnung auf Frieden, die Bestrafung der Schuldigen und die Rückkehr in ein freies Leben. Doch wurden die Erfahrungen und Ereignisse höchst unterschiedlich gedeutet. Die Vorlesungsreihe nimmt diese differenten Erfahrungen und Deutungen zum Ausgangspunkt, um ausgewählte Themen zur Bewältigung des Kriegsendes vorzustellen.
Die Reihe wird veranstaltet von Arbeitsbereich Deutsche Geschichte des Fachbereichs Geschichte (Universität Hamburg), Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Institut für die Geschichte der deutschen Juden
Dr. Jürgen Matthäus / Dr. Petra Bopp (United States Holocaust Memorial Museum, Washington / Hamburg): ‚Aus meiner Dienstzeit'. Private Fotoalben und deutsche Weltkriegserinnerung
Sie liegen in Schubladen und Kellern von Wohnhäusern, auf Verkaufstischen von Flohmärkten und in Archiven: Private Fotoalben sind materielle Zeugnisse, wie Deutsche den Zweiten Weltkrieg erlebten und wie sie ihn erinnert wissen wollten. Einige dieser Kriegsalben haben in Ausstellungen oder Publikationen Aufmerksamkeit erregt; dennoch hat sich die Forschung bislang nur ansatzweise mit der Quellengattung befasst. Basierend auf der Auswertung einiger hundert Privatalben und mit Fokus auf den deutschen Vernichtungskrieg „im Osten“ untersucht das Buch/der Vortrag, was ihre Kriegserzählung ausmacht, wie sie Gewalt repräsentierten und welche Spuren ihr Bild deutscher Verbrechen und deutscher Opferschaft bis heute im Familiengedächtnis hinterlassen hat.
Moderation: Dr. Kim Wünschmann (IGdJ)
Prof. Dr. Constantin Goschler (Ruhr-Universität Bochum): Chronique scandaleuse? 1945 und die Idee der Reparationen im 20. und 21. Jahrhundert
Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich das Konzept der Reparationen dramatisch: Erstmalig wurden zivile Opfer staatlicher Gewalttaten entschädigungswürdig. So entstand in Deutschland seit 1945 im Verlauf von Jahrzehnten ein umfangreiches Wiedergutmachungsprogramm, das gegenwärtig zum Abschluss kommt. Oftmals wird die deutsche Wiedergutmachung in teleologischer Weise erzählt, wobei vor allem die allmähliche Einbeziehung von immer weiteren Verfolgtengruppen sowie umgekehrt die noch bestehenden Defizite hervorgehoben werden. Auf die-se Weise wird die Geschichte der Wiedergutmachung in erster Linie zu einer chronique scandaleuse, d.h. wahlweise zu einer Geschichte eines unerfüllten oder unerfüllbaren Versprechens. Dieser Vortrag will sich dagegen vor allem mit der Geschichte des hier enthaltenen Versprechens selbst auseinandersetzen: Wie veränderten sich also im 20. Jahrhundert die Erwartungen, dass massenhafte staatliche Gewalt entschädigt werden sollte? Und wo liegt dabei der besondere historische Ort von 1945?
Moderation: Prof. Dr. Kirsten Heinsohn (FZH)
Dr. Hanne Leßau (NS-Dokumentationszentrum Köln): Entnazifizierungsgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit
In Öffentlichkeit und Forschung gilt die Entnazifizierung als missglückter Versuch einer frühen "Vergangenheitsbewältigung". Dagegen legt ein genauer Blick auf das Agieren der Deutschen im Kontext ihrer politischen Überprüfung frei, dass die Entnazifizierung eine weitaus intensivere und ernsthaftere Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit im Nationalsozialismus anstieß als vermutet. Die zu Prüfenden entwickelten neue Deutungen der eigenen NS-Vergangenheit, die auch über die politische Überprüfung hinaus wirkmächtig blieben und Fragen für unser Verständnis vom Übergang von der NS-Diktatur zur Bundesrepublik aufwerfen.
Moderation: Dr. Kim Wünschmann
PD Dr. Franka Maubach (Universität Bielefeld): Displaced. Über Lebenswege nach dem Holocaust
Die Displaced Persons (DPs) – Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Mordpolitik – waren diejenige Flüchtlingsgruppe, für die nach 1945 das internationale Flüchtlingsrecht geschaffen wurde. Die Genfer Flüchtlingskonvention, noch 2015 und bis heute das wichtigste Instrument globaler Asylpolitik, zielte auf »Resettlement«, also die Ansiedlung in anderen Ländern, denn viele Überlebende konnten oder wollten nicht in ihre Heimatländer zurückkehren und suchten Aufnahme in den USA oder Palästina. 1946 wurden über 100 DPs vom US-amerikanischen Psychologen David P. Boder interviewt. Die Zeugnisse dieser oft noch sehr jungen Menschen gehören zu den frühesten Audio-aufnahmen von Überlebenden der Konzentrationslager. Erschreckend plastisch schildern sie das Überleben in den Lagern, versuchen sich aber auch in Raum und Zeit zu orientieren. Sie erzählen von einer existenziellen Ungewissheit – über den eigenen Lebensweg wie über den Verbleib von Angehörigen. Diese basale Ohnmacht und Orientierungslosigkeit verbinden sich in ihren Erzählungen mit dem Versuch, Handlungsfähigkeit und im Grunde das eigene Leben wiederzugewinnen. Der Vortrag widmet sich in einer erfahrungsgeschichtlichen Momentaufnahme den Überlebenswegen der DPs und leuchtet so das Kriegsende aus der existenziell ambivalenten Perspektive der Holocaustopfer und Flüchtlinge des Kriegsendes aus.
Moderation: Prof. Dr. Birthe Kundrus (Uni Hamburg)
Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer (Bergische Universität Wuppertal): Und immer noch flattern die Hakenkreuzfahnen! Vom kommen-den Kriegsende, gesteigerter Besatzungsgewalt und den gesellschaftlichen Verfasstheiten in Europa 1944/45
Besatzung, so schrieb Jean-Paul Sartre im November 1944 in Paris, als die Stadt schon befreit, aber der Zweite Weltkrieg noch nicht beendet war, sei „ein verstecktes Gift“, das „Entmenschlichung“ bewirke. Tatsächlich war seiner Ansicht nach Okkupation sogar „schrecklicher als Krieg“, weil Menschen in dieser „zweideutigen Lage wirklich weder handeln noch auch nur denken“ konnten. Zweideutigkeit prägte vielfach auch das (kommende) Ende der Besatzung: Während ein erstarkender bewaffneter Widerstand, die Nachkriegsordnung bereits fest im Blick, bestrebt war, die Besatzer zu vertreiben, fürchteten sich einheimische, kriegsmüde Bevölkerungen oft genug vor dessen Gewaltakten ebenso wie vor deutscher Repression. Denn diese nahmen gegen Ende des Kriegs mit Geiselerschießungen, dem Niederbrennen ganzer Dörfer und den berüchtigten ARLZ-Maßnahmen eher noch zu. Während somit zum Begriff des Kriegsendes die Assoziation vom Schweigen der Waffen gehört, war das (kommende) Ende der Besatzung eine Zeit hoher Unsicherheit und wachsender Anspannungen in Gesellschaften, die auch zuvor schon in hohem Maße unter Stress gestanden hatten. Diesen gesellschaftlichen Verfasstheiten widmet sich der Vortrag in europäischer Perspektive.
Moderation: Prof. Dr. Birthe Kundrus
Prof. Dr. Michael Wildt (HU Berlin/ Hamburg): Bangen und Hoffen. Erwartungen und Befürchtungen in der Hamburger Gesellschaft 1945
Die letzten Tage des NS-Regimes Ende April/Anfang Mai wurden in Hamburg mit großer Anspannung erlebt. Würde NS-Gauleiter Kaufmann die Stadt gemäß dem Befehl aus Berlin gegen die britische Armee, die bereits bis zur Stadtgrenze vorgerückt war, zur Festung erklären und damit weitere Gewalt, Tote und Zerstörung provozieren? Oder gab es genug Kräfte in der Stadt, die NS-Führung zu einer kampflosen Übergabe zu bewegen? Während die deutsche Mehrheitsgesellschaft zwischen Angst und Hoffnung schwankte, harrten die Zehntausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, KZ-Verhäftlinge, versteckte Jüdinnen und Juden ihrer Befreiung, auch in den letzten Kriegstagen immer noch tödlich bedroht wie die grausamen Morde an den Kindern in der Schule am Bullenhuser Damm beweisen.
Moderation: Prof. Dr. Kirsten Heinsohn
Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum (Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin): Verfolgerland – ein anderer Blick auf die Bundesrepublik
Das Narrativ vom „langen Weg nach Westen“, an dessen Ende die „Geglückte Demokratie“ stand, gehörte lange zum unangefochtenen Standardwissen über die Bundesrepublik. Zwar wurde es auch schon früh kritisiert, u.a. von Axel Schildt, aber die Perspektive blieb dabei auf die Mehrheitsgesellschaft gerichtet, auf die Kontinuität der Eliten in Staat, Militär, Polizei und Wissenschaft und den sehr langsamen Einstellungswandel in der „normalen Bevölkerung“. Blickt man dagegen auf die ersten Jahrzehnte nach dem Krieg aus der Perspektive der ehemals (und z.T. immer noch) Verfolgten, so ändert sich dieses Bild radikal. Der Vortrag plädiert dafür, den Blick auf die westdeutsche Demokratie neu zu justieren – und dies auch in Hinblick auf drei aktuelle Themenfelder: die Erarbeitung einer glaubwürdigen, inklusiven Erinnerungskultur, die Perspektive der (Re-)Migrierenden als integrativer Teil der deutschen Geschichte sowie, last but not least auf die Frage nach den Defiziten bzw. der Stabilität von Demokratisierung und Liberalisierung.
Moderation: Prof. Dr. Kirsten Heinsohn
Prof. Dr. Jörg Echternkamp (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam): Kriegsende in den Dünen. Zur Mikrogeschichte eines Gewaltraums am Beispiel der Insel Langeoog
Als kanadische Soldaten im Mai 1945 Langeoog besetzten, war die „Insel der Volksgemeinschaft“ Geschichte. Seit 1932/33 hatte die Selbstmobilisierung von Insulanern und Touristen am Rande des Regimes für die Präsenz des Nationalsozialismus in der sozialen und symbolischen Praxis gesorgt. Mit Zwangsarbeitern hatte die Wehrmacht die Insel zu einer Garnison ausgebaut. Von der Kapitulation ausgehend, analysiert Echternkamp diese Prozesse, erläutert Kontinuitäten und Brüche auf dem Weg zu einem neuen Selbstentwurf und diskutiert methodisch nach dem Mehrwert einer globalen Mikrogeschichte.
Moderation: Prof. Dr. Birthe Kundrus
Prof. Dr. Nikolaus Wachsmann (Birkbeck College, University of London): Auschwitz und das Ende des Zweiten Weltkriegs
2025 jährt sich die Befreiung von Auschwitz, dem tödlichsten aller SS Konzentrationslager, zum 80. Mal. Dieser Vortrag wirft einen Blick zurück auf die letzten Monate des Lagers, vom Sommer 1944, als es nach den Massendeportationen von Jüdinnen und Juden aus Ungarn seinen mörderischen Höhepunkt erreichte, bis zur Ankunft der sowjetischen Soldaten im Januar 1945. Der Blick richtet sich auch nach vorne, auf die Zeit bis zum Kriegsende. Die Befreiung setzte dem Morden der Nationalsozialisten kein Ende – es ging an anderen Tatorten weiter, bis zur endgültigen deutschen Niederlage im Mai 1945. Der Vortrag befasst sich mit dem Schicksal ehemaliger Auschwitz-Häftlinge, die in andere Lager verschleppt wurden, und mit den Verbrechen der Mitglieder der SS in Auschwitz in Lagern wie Bergen-Belsen.
Moderation: Dr. Kim Wünschmann
Veranstaltungsort:
Hörsaal D (Philturm)
Von-Melle-Park 6
20148 Hamburg