Auf dem Papier vollzog sich die Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik im Herbst 1990. Mit der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags stand die Transformation zweier Länder zu einem Staat jedoch nicht an ihrem Ende, sondern erst am Anfang. Die (Wieder)Vereinigung erfolgte nicht plötzlich. Sie entwickelte sich in einem mehrdimensionalen Prozess, der bis in die Gegenwart andauert. Diese Transformationsgeschichte ist in besonderer Weise als eine „Problemgeschichte der Gegenwart“ zu begreifen, sie raucht also noch. Das wirft Fragen nach der Verfasstheit der deutschen Gesellschaft im Jetzt auf.
Wuchs wirklich zusammen, was zusammengehörte? In welchen Bereichen der Gesellschaft vollzog sich eine Transformation, welche Gestalt nahm diese an und wer partizipierte daran? Wer gehörte zu den Gewinnern, wer zu den Verlierern? Bildete die Vereinigung der zwei deutschen Staaten mehr als die Summe ihrer einzelnen Teile und wenn ja, welche?
Die Veranstaltungen fanden online statt, die Aufzeichnungen stehen auf unserem Vimeo-Kanal zur Verfügung.
18.30 Uhr
Die 1990er Jahre als Protestjahre
Im Gespräch: Christina Morina (Bielefeld) und Detlef Pollack (Münster)
Moderation: Thomas Großbölting
Die Aufzeichnung dieser Veranstaltung kann hier angesehen werden.
Die Geschichte des Umbruchs 1989 ist ohne eine Geschichte des Protests undenkbar. Bilder und Erzählungen der demonstrierenden Massen in Leipzig oder Ost-Berlin gehören zum Standard-Repertoire, wenn es darum geht, die Geschichte der „Wende“ nachzuzeichnen. Doch mit welchen Anliegen gingen Menschen in Ost und West im Laufe der 1990er Jahre auf die Straße? Wer meldete sich zu Wort? Die Gesprächsrunde diskutiert, inwiefern in der verlängerten Transformationszeit unterschiedliche politische Kulturen und voneinander abweichende Praktiken des Protestierens aufeinanderprallten. Lassen sich dabei ungleiche Demokratieerwartungen beobachten? Oder kam auf der Straße zusammen, was andernorts noch in getrennten Bahnen verlief? Sind etwa an Arbeitskämpfen der 1990er Jahre spezielle Verflechtungseffekte zwischen Ost und West festzustellen? Der Ansatz dieses Gesprächs ist es, die Proteste der 1990er Jahre vor dem Hintergrund der Demonstrationen von 1989 zu diskutieren, dabei aber mögliche Wechselwirkungen und (in doppeltem Sinne) geteilte Praktiken in den Mittelpunkt zu rücken.
18.30 Uhr
(Post)Migrantische Blicke auf die Transformationsgesellschaft
Im Gespräch: Maria Alexopoulou (Berlin) und Carsta Langner (Jena)
Moderation: Sebastian Justke
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Migration ist nicht erst seit der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015/16 ein Dauerthema in der deutschen Öffentlichkeit. Im Zusammenhang mit dem Mauerfall und dessen Folgen hat das Thema in Öffentlichkeit und Forschung hingegen erst in jüngster Zeit verstärkt Beachtung gefunden. Im Gespräch wird der Blick darauf gerichtet, wie (post)migrantische Menschen und Gruppen die Umbrüche seit 1989 wahrnahmen, welche Konsequenzen dies für sie nach sich zog und wie sie darauf reagierten. Im Sinne einer getrennten und geteilten Geschichte wird nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten (post)migrantischer Gruppen in Ost und West gefragt. Welche Erfahrungen machten sie während und nach der „Wende“ in den Beziehungen zu den jeweiligen deutschen Mehrheitsgesellschaften? Wie gingen (post)migrantische Menschen mit dem neuen deutschen Nationalgefühl um, wo verorteten sie sich in der Wiedervereinigungsgesellschaft? Mit der Fokussierung auf ihre Wahrnehmungen und Reaktionen auf die Zäsur von 1989/90 wird auch ein Perspektivwechsel angestrebt, der gängige Erzählungen zur Geschichte der Wiedervereinigung kritisch ergänzt.
18.30 Uhr
Wertewandel im Familiären
Im Gespräch: Steffen Mau (Berlin) und Christopher Neumaier (Hamburg / Potsdam)
Moderation: Kirsten Heinsohn
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Betrachtungen der deutsch-deutschen Gesellschaft beinhalten oft Erzählungen über „fortschrittlichere“ Familienmodelle und Geschlechterbilder im Osten. Dabei werden etwa die Berufstätigkeit von Frauen in der DDR, die frühe außerfamiliäre Kinderbetreuung oder höhere Scheidungsraten ins Feld geführt. Doch waren die Ideen von Familie und damit verbundene Konzepte von Geschlecht in Ost und West tatsächlich so unterschiedlich? Wo prallten sie gegebenenfalls aufeinander? Im Gespräch wird gefragt, inwiefern familiäre und geschlechterbezogene Rollenbilder mit der Transformation seit 1989/90 neu ausgehandelt wurden. Wandelten sich die leitenden Vorstellungen über private Lebensformen in West wie in Ost bereits seit den 1970er/80er Jahren und welche Rolle spielte dabei eine zunehmende Individualisierung? Das Anliegen dieser Gesprächsrunde ist es, die alltäglichen Lebenswelten in der Transformation in den Blick zu nehmen und nach Trennendem und Einendem im privaten Raum zu fragen.