Bearbeitung: Svea Gruber M.A.
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Forschungslinie: Jüngere und jüngste Zeitgeschichte
Fußballfankultur entwickelte sich seit den 1990er-Jahren zu einer der größten Jugendszenen der Gegenwart. Die anhaltende Strahlkraft, die sie auf junge Menschen ausübt, steht dabei in einem engen Zusammenhang mit dem Wandel, den sie im Jahrzehnt der Wiedervereinigung durchmachte: Dominierten zunächst gewaltbereite und nicht selten rechtsextreme Hooligans die öffentliche Wahrnehmung und Debatte über Fußballfans, traten seit den frühen 1990er-Jahren mit der kritischen Fanbewegung und später den Ultras neue Akteure in den Vordergrund, die die Fankultur fundamental veränderten. Wie ging dieser Wandel von statten und wie lässt er sich historisch erklären?
Das geplante Promotionsprojekt untersucht die Entwicklung der Fußballfankultur seit den 1990er-Jahren anhand ausgewählter Fallbeispiele, die exemplarisch für das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen fankulturellen Praktiken, historischer Prägung und politischer Ausrichtung stehen. In den Blick genommen wird vor allem die sogenannte aktive Fanszene, also jene Fans, die sich in Gruppen organisieren. Wie reagierten sie auf die gesellschaftspolitischen Entwicklungen jener Jahre? Wie lässt sich der Wandel der Fankultur erklären, von welchen Konflikten wurde er begleitet und welche Auswirkungen hatte er?
Die zu untersuchenden Entwicklungen werden in die Gesellschaftsgeschichte der 1990er-Jahre eingebettet. Dabei stehen insbesondere drei verschiedene Perspektiven im Vordergrund, die eng miteinander verflochten sind und in ihrer verschränkten Betrachtung nicht nur neue Erkenntnisse über die Fußballfankultur, sondern auch über die wiedervereinigte Gesellschaft seit den 1990er-Jahren versprechen. In einem ersten Schwerpunkt soll danach gefragt werden, wie sich die Wiedervereinigung auf den Fußball und seine Fankultur auswirkte. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich die heutzutage vieldiskutierten deutsch-deutschen Verwerfungen auch auf der Ebene der Fußballfans finden lassen, sollen neben Angleichungs- und Abgrenzungsprozessen auch mögliche Kotransformationsprozesse im Sinne Phillip Thers in den Blick genommen werden. Zweitens soll die Haltung der Fußballfans gegenüber den stärker werdenden Ökonomisierungs- und Vermarktlichungstendenzen untersucht werden. Welche Praktiken der Abgrenzung, aber auch der Übernahme von Ökonomisierungstendenzen lassen sich feststellen? Was für eine Haltung entwickelten die Fanszenen im Einzelfall und wie begründeten sie diese? In welchen Situationen konnte sich Protest formieren und wie wurde er artikuliert? Der dritte Schwerpunkt bezieht sich auf den Umgang der Fußballfans mit dem omnipräsenten Rechtsextremismus und der (rassistischen) Gewalt der „Baseballschlägerjahre“, die auch in und rund um die Stadien zu finden waren. Wie positionierten sich nicht-rassistische Fans zu den Vorfällen? Wie lässt sich erklären, dass die gewaltbereiten und rechtsextremen Hooligans im Laufe des Jahrzehnts weitgehend aus den Stadien verdrängt wurden? Welche Rolle spielten die kritische Fanbewegung und die aufkommenden Ultras in diesem Prozess? Indem das Projekt sich nicht ausschließlich auf die rechtsextremen Akteur:innen konzentriert, sondern auch die Gegenwehr in den Blick nimmt, differenziert es herrschende Narrative über die politische Ausrichtung der Fußballfanszenen in den 1990er-Jahren aus.
Das Promotionsprojekt wird seit Juni 2025 von der Gerda-Henkel-Stiftung im Rahmen eines zweijährigen Stipendiums gefördert. Die Ergebnisse sollen in einer Monographie veröffentlicht werden.