Bearbeitung:
apl. Prof. Dr. Klaus Große Kracht
Grosse-Kracht@zeitgeschichte-hamburg.de
Forschungslinie: Der Nationalsozialismus und seine „zweite Geschichte“
Das Arbeitsvorhaben ist Teil des Projektes „NS-Aufarbeitung im Zeichen ‚nüchterner‘ Sachlichkeit? Wissenschaftliche Praxis und Wissensproduktion am Institut für Zeitgeschichte (1949–1989)“. In enger Kooperation mit dem Teilprojekt 1 „Zeithistorische Wissensproduktion in der Bundesrepublik. Das Institut für Zeitgeschichte in München 1949–1972“ soll die Erarbeitung und Zirkulation historischen Wissens an Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München während der Institutsleitung von Martin Broszat (1926–1989) untersucht werden, einem der wohl bedeutendsten Zeithistoriker in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Projekt wird seit November 2024 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit einer Projektlaufzeit von drei Jahren gefördert.
Die 1970er und 1980er Jahre sind die Zeit, in der das seit 1949 bestehende IfZ einen erheblichen Ausbau erfuhr – augenfällig im Bezug des neuen, bis heute bestehenden Institutsgebäudes im Jahr 1972. Im gleichen Jahr ging die Leitung des Instituts an Broszat über, der seit 1955 am Institut beschäftigt war und sich bereits in den 1960er Jahren immer wieder um eine programmatische Weiterentwicklung der historischen Forschung am IfZ bemüht hatte. Stand das IfZ zuvor wesentlich für konkrete empirische Detailforschung und entsprechende Expertise, wurde das Münchener Institut in den 1970er und 1980er Jahren auch zu einer Art ‚Denkkollektiv‘, in dem neue Deutungsangebote zum Verständnis der NS-Zeit systematisch und in konkreten Projekten erprobt wurden. So galt Broszat selbst als einer der wichtigsten Wortführer des sogenannten funktionalistischen bzw. strukturalistischen Ansatzes, der die Gewaltgeschichte der NS-Herrschaft weniger aus den ideologischen Antrieben der NS-Führungsriege ableitete als vielmehr aus den internen Eskalationsdynamiken des NS-Herrschaftssystems. Dieser stärker struktur- und sozialgeschichtlich ausgerichtete Ansatz lief allerdings Gefahr, die konkrete Verantwortung Einzelner an den NS-Verbrechen auszublenden, was Broszat aus späterer Perspektive wiederholt vorgeworfen wurde. Auch Broszats Mitte der 1980er Jahre artikuliertes Plädoyer für eine „Historisierung des Nationalsozialismus“, mit dem er die zwölf Jahre des ‚Dritten Reiches‘ in übergreifende historische Tendenzen des 20. Jahrhunderts einzubetten versuchte, war nicht frei von missverständlichen Interpretationsmöglichkeiten, wie insbesondere sein schon zeitgenössisch viel diskutierter öffentlicher Briefwechsel mit dem israelisch-amerikanischen Historiker Saul Friedländer im Jahr 1988 zeigte. Dass Martin Broszat selbst, wie sich viele Jahre nach seinem Tod herausstellte, 1944 einen Aufnahmeantrag in die NSDAP gestellt hatte, macht die Bewertung seiner wissenschaftlichen Leistung nicht einfacher.
In dem Teilprojekt wird es um die Rekonstruktion der am IfZ erarbeiteten Transformationsprozesse im zeitgeschichtlichen Verständnis der NS-Zeit gehen, an denen neben Broszat eine ganze Reihe später einflussreicher Zeithistoriker wie Wolfgang Benz, Norbert Frei u.a. – die allesamt während ihrer formativen Phase Mitarbeiter am IfZ waren – beteiligt waren. Zugleich sollen aber auch konkrete Forschungsaktivitäten am IfZ, wie etwa das Projekt zu Widerstand und Verfolgung in Bayern mit seiner stark an der Alltagsgeschichte orientierten Perspektive auf Resistenzpotentiale im ‚Dritten Reich‘ (1977–1983) betrachtet werden, ebenso wichtige Editionsprojekte (z.B. die Edition der Goebbels-Tagebücher) sowie die Haltung von IfZ-Historikern – die wenigen Historikerinnen am IfZ traten in dieser Zeit kaum öffentlich in Erscheinung – während des Historikerstreits um die Singularität des Holocaust in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Ein besonderes Augenmerk wird zudem auf die Praktiken der Wissenschaftspopularisierung am IfZ gelegt. In dieser Hinsicht sind vor allem die von Broszat und anderen noch in den 1960er Jahren gestartete Reihe der „dtv-Weltgeschichte“ sowie später die 30-bändige dtv-Reihe „Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ in ihrer Verbreitung und Rezeption zu untersuchen.